Montag, 16. März 2015

über Mitgefühl


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Harald Martenstein
Über Mitgefühl

Harald Martensteins Zug hat einige Stunden Verspätung – weil ein junger Mann sich vor den Zug geworfen hat. Seine Mitreisenden aber bemitleideten nur sich selbst. 
 Von Harald Martenstein
 
ZEITmagazin Nr. 2/2015 28. Januar 2015
 


Vor einigen Wochen passierte mir Folgendes. Ich fuhr im ICE, plötzlich hörte ich einen leichten Schlag. Der Zug rollte ruckelnd über etwas. Es knackte. Wie sich herausstellte, war dieses Etwas ein 20-Jähriger, der sich vor den ICE geworfen hatte. Der Zug stand nun auf freier Strecke. Polizei und Feuerwehr erschienen, sie suchten nach Überresten. Wir, die Passagiere, mussten drei oder vier Stunden warten, danach wurden wir vom Technischen Hilfswerk evakuiert und in einen Regionalzug verfrachtet, der kleiner war als der ICE und dementsprechend überfüllt. 

Der folgende Monolog ist aus Sätzen zusammengesetzt, die so oder ähnlich in dem Zug gesagt wurden, ich habe unauffällig Notizen gemacht: 



"Wenn man sich unbedingt umbringen will, dann sollte man nicht andere Leute damit behelligen. Es gibt Methoden, die rücksichtsvoller sind, ich meine, für die Umwelt. Wir haben alle Termine, oder etwa nicht? Was ist das nur für ein rücksichtsloser Mensch gewesen, ein Egoist ist das. Der hat Probleme, und andere Leute müssen es ausbaden. Allein, was der dem Zugführer antut! Der Zugführer ist doch jetzt traumatisiert." 


"Waren Sie schon im Zugrestaurant? Da gibt es nichts mehr. Die haben keinen Strom, oder so. Nein, auch keinen Kaffee. Der Tag ist versaut, ob es jetzt drei oder fünf Stunden dauert, ist auch egal. Aber wenigstens einen Kaffee hätte ich gern. Wofür habe ich erste Klasse bezahlt?" 


"So was passiert doch öfter mal. Darauf müssten die bei der Bahn doch eingerichtet sein! Es kann doch nicht sein, dass dann gleich alles zusammenbricht." 


"Hallo? Hallo? Ich bin’s. Die Konferenz müsst ihr nachher ohne mich durchziehen. Irgend so ein Arschloch hat sich vor den Zug geworfen. Wie bitte? Keine Ahnung – ein junger Typ, heißt es."



"Die sagen, der Zug ist beschädigt. Deshalb kann er nicht weiterfahren. So schwere Schäden kann ein menschlicher Körper doch normalerweise gar nicht bewirken. Das Material taugt nix. Alles Murks. Kein Wunder, dass die Chinesen ihre Züge in Frankreich kaufen. Ein Zug muss das aushalten. Na, die Chinesen sind kleiner und leichter, oder? Tschuldigung, ich wollte keine Witze machen, aber die Situation ist absurd. Wenn er nicht will, dass man über ihn lästert, soll er die Pistole nehmen wie neulich dieser Journalist, da sag ich, Hut ab." 


"Meistens ist es Liebeskummer in dem Alter. Was für ein Irrsinn, kein Mensch ist es wert, dass man sich wegen ihm so ’nen Kopp macht. Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt im Leben nicht nur den Einen. Das ist von Annett Louisan, glaub’ ich. Wenigstens ist es nicht kalt oder heiß. Sie müssen sich nur mal vorstellen, es hätte draußen jetzt 30 Grad oder 10 Grad minus, was dann jetzt hier drin los wäre. Wer zahlt überhaupt für den Schaden? Das Zugticket muss die Bahn ersetzen, aber was ist eigentlich mit dem geschäftlichen Schaden? Mir entgeht jetzt ein Auftrag, wer zahlt das? Den Namen von der Person rücken sie nicht heraus, aber ich lass das checken. Eine Haftpflichtversicherung wird der wohl hoffentlich gehabt haben." 


"In den Ersatzzug steig ich nicht, der ist zu klein. Ich kann nicht eine Stunde lang stehen, ich hab Zucker und Kreislauf. Außerdem habe ich erster Klasse gelöst, da gibt es keine erste Klasse in dem kleinen Scheißzug. Ich komme heute nicht mehr nach München, ihr müsst mir ein Hotel buchen, in Frankfurt am besten. Hanau? Um Gottes willen – nicht Hanau! Wie, Frankfurt ausgebucht? Hanau. Bleibt mir denn heute gar nichts erspart?" 


Harald Martenstein ist Redakteur des Tagesspiegels.
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wie man hoffentlich lesen konnte
 ist der Artikel von Harald Martenstein.
Erschienen bei zeit.de / Zeit-magazin   


hier fällt mir wieder die alte Weisheit ein :
Das Boot ist leer ... 
nachzulesen : Das leere Boot

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