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Harald Martenstein
Über Mitgefühl
Harald Martensteins Zug hat einige
Stunden Verspätung – weil ein junger Mann sich vor den Zug geworfen hat.
Seine Mitreisenden aber bemitleideten nur sich selbst.
Von
Harald Martenstein
Vor einigen Wochen passierte mir Folgendes. Ich fuhr im ICE,
plötzlich hörte ich einen leichten Schlag. Der Zug rollte ruckelnd über
etwas. Es knackte. Wie sich herausstellte, war dieses Etwas ein
20-Jähriger, der sich vor den ICE geworfen hatte. Der Zug stand nun auf
freier Strecke. Polizei und Feuerwehr erschienen, sie suchten nach
Überresten. Wir, die Passagiere, mussten drei oder vier Stunden warten,
danach wurden wir vom Technischen Hilfswerk evakuiert und in einen
Regionalzug verfrachtet, der kleiner war als der ICE und dementsprechend
überfüllt.
Der folgende Monolog ist aus Sätzen zusammengesetzt, die so oder
ähnlich in dem Zug gesagt wurden, ich habe unauffällig Notizen gemacht:
"Wenn man sich unbedingt umbringen will, dann sollte man nicht
andere Leute damit behelligen. Es gibt Methoden, die rücksichtsvoller
sind, ich meine, für die Umwelt. Wir haben alle Termine, oder etwa
nicht? Was ist das nur für ein rücksichtsloser Mensch gewesen, ein
Egoist ist das. Der hat Probleme, und andere Leute müssen es ausbaden.
Allein, was der dem Zugführer antut! Der Zugführer ist doch jetzt
traumatisiert."
"Waren Sie schon im Zugrestaurant? Da gibt es nichts mehr. Die
haben keinen Strom, oder so. Nein, auch keinen Kaffee. Der Tag ist
versaut, ob es jetzt drei oder fünf Stunden dauert, ist auch egal. Aber
wenigstens einen Kaffee hätte ich gern. Wofür habe ich erste Klasse
bezahlt?"
"So was passiert doch öfter mal. Darauf müssten die bei der Bahn
doch eingerichtet sein! Es kann doch nicht sein, dass dann gleich alles
zusammenbricht."
"Hallo? Hallo? Ich bin’s. Die Konferenz müsst ihr nachher ohne
mich durchziehen. Irgend so ein Arschloch hat sich vor den Zug geworfen.
Wie bitte? Keine Ahnung – ein junger Typ, heißt es."
"Die sagen, der Zug ist beschädigt. Deshalb kann er nicht
weiterfahren. So schwere Schäden kann ein menschlicher Körper doch
normalerweise gar nicht bewirken. Das Material taugt nix. Alles Murks.
Kein Wunder, dass die Chinesen ihre Züge in Frankreich kaufen. Ein Zug
muss das aushalten. Na, die Chinesen sind kleiner und leichter, oder?
Tschuldigung, ich wollte keine Witze machen, aber die Situation ist
absurd. Wenn er nicht will, dass man über ihn lästert, soll er die
Pistole nehmen wie neulich dieser Journalist, da sag ich, Hut ab."
"Meistens ist es Liebeskummer in dem Alter. Was für ein Irrsinn,
kein Mensch ist es wert, dass man sich wegen ihm so ’nen Kopp macht.
Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt im Leben nicht nur den Einen. Das
ist von Annett Louisan, glaub’ ich. Wenigstens ist es nicht kalt oder
heiß. Sie müssen sich nur mal vorstellen, es hätte draußen jetzt 30 Grad
oder 10 Grad minus, was dann jetzt hier drin los wäre. Wer zahlt
überhaupt für den Schaden? Das Zugticket muss die Bahn ersetzen, aber
was ist eigentlich mit dem geschäftlichen Schaden? Mir entgeht jetzt ein
Auftrag, wer zahlt das? Den Namen von der Person rücken sie nicht
heraus, aber ich lass das checken. Eine Haftpflichtversicherung wird der
wohl hoffentlich gehabt haben."
"In den Ersatzzug steig ich nicht, der ist zu klein. Ich kann
nicht eine Stunde lang stehen, ich hab Zucker und Kreislauf. Außerdem
habe ich erster Klasse gelöst, da gibt es keine erste Klasse in dem
kleinen Scheißzug. Ich komme heute nicht mehr nach München, ihr müsst
mir ein Hotel buchen, in Frankfurt am besten. Hanau? Um Gottes willen –
nicht Hanau! Wie, Frankfurt ausgebucht? Hanau. Bleibt mir denn heute gar
nichts erspart?"
Harald Martenstein ist Redakteur des Tagesspiegels.
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wie man hoffentlich lesen konnte
ist der Artikel von Harald Martenstein.
Erschienen bei zeit.de / Zeit-magazin
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Harald Martenstein
Harald Martensteins Zug hat einige
Stunden Verspätung – weil ein junger Mann sich vor den Zug geworfen hat.
Seine Mitreisenden aber bemitleideten nur sich selbst.
Von Harald Martenstein
Von Harald Martenstein
Vor einigen Wochen passierte mir Folgendes. Ich fuhr im ICE,
plötzlich hörte ich einen leichten Schlag. Der Zug rollte ruckelnd über
etwas. Es knackte. Wie sich herausstellte, war dieses Etwas ein
20-Jähriger, der sich vor den ICE geworfen hatte. Der Zug stand nun auf
freier Strecke. Polizei und Feuerwehr erschienen, sie suchten nach
Überresten. Wir, die Passagiere, mussten drei oder vier Stunden warten,
danach wurden wir vom Technischen Hilfswerk evakuiert und in einen
Regionalzug verfrachtet, der kleiner war als der ICE und dementsprechend
überfüllt.
Der folgende Monolog ist aus Sätzen zusammengesetzt, die so oder
ähnlich in dem Zug gesagt wurden, ich habe unauffällig Notizen gemacht:
"Wenn man sich unbedingt umbringen will, dann sollte man nicht
andere Leute damit behelligen. Es gibt Methoden, die rücksichtsvoller
sind, ich meine, für die Umwelt. Wir haben alle Termine, oder etwa
nicht? Was ist das nur für ein rücksichtsloser Mensch gewesen, ein
Egoist ist das. Der hat Probleme, und andere Leute müssen es ausbaden.
Allein, was der dem Zugführer antut! Der Zugführer ist doch jetzt
traumatisiert."
"Waren Sie schon im Zugrestaurant? Da gibt es nichts mehr. Die
haben keinen Strom, oder so. Nein, auch keinen Kaffee. Der Tag ist
versaut, ob es jetzt drei oder fünf Stunden dauert, ist auch egal. Aber
wenigstens einen Kaffee hätte ich gern. Wofür habe ich erste Klasse
bezahlt?"
"So was passiert doch öfter mal. Darauf müssten die bei der Bahn
doch eingerichtet sein! Es kann doch nicht sein, dass dann gleich alles
zusammenbricht."
"Hallo? Hallo? Ich bin’s. Die Konferenz müsst ihr nachher ohne
mich durchziehen. Irgend so ein Arschloch hat sich vor den Zug geworfen.
Wie bitte? Keine Ahnung – ein junger Typ, heißt es."
"Die sagen, der Zug ist beschädigt. Deshalb kann er nicht
weiterfahren. So schwere Schäden kann ein menschlicher Körper doch
normalerweise gar nicht bewirken. Das Material taugt nix. Alles Murks.
Kein Wunder, dass die Chinesen ihre Züge in Frankreich kaufen. Ein Zug
muss das aushalten. Na, die Chinesen sind kleiner und leichter, oder?
Tschuldigung, ich wollte keine Witze machen, aber die Situation ist
absurd. Wenn er nicht will, dass man über ihn lästert, soll er die
Pistole nehmen wie neulich dieser Journalist, da sag ich, Hut ab."
"Meistens ist es Liebeskummer in dem Alter. Was für ein Irrsinn,
kein Mensch ist es wert, dass man sich wegen ihm so ’nen Kopp macht.
Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt im Leben nicht nur den Einen. Das
ist von Annett Louisan, glaub’ ich. Wenigstens ist es nicht kalt oder
heiß. Sie müssen sich nur mal vorstellen, es hätte draußen jetzt 30 Grad
oder 10 Grad minus, was dann jetzt hier drin los wäre. Wer zahlt
überhaupt für den Schaden? Das Zugticket muss die Bahn ersetzen, aber
was ist eigentlich mit dem geschäftlichen Schaden? Mir entgeht jetzt ein
Auftrag, wer zahlt das? Den Namen von der Person rücken sie nicht
heraus, aber ich lass das checken. Eine Haftpflichtversicherung wird der
wohl hoffentlich gehabt haben."
"In den Ersatzzug steig ich nicht, der ist zu klein. Ich kann
nicht eine Stunde lang stehen, ich hab Zucker und Kreislauf. Außerdem
habe ich erster Klasse gelöst, da gibt es keine erste Klasse in dem
kleinen Scheißzug. Ich komme heute nicht mehr nach München, ihr müsst
mir ein Hotel buchen, in Frankfurt am besten. Hanau? Um Gottes willen –
nicht Hanau! Wie, Frankfurt ausgebucht? Hanau. Bleibt mir denn heute gar
nichts erspart?"
Harald Martenstein ist Redakteur des Tagesspiegels.
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wie man hoffentlich lesen konnte
ist der Artikel von Harald Martenstein.
Erschienen bei zeit.de / Zeit-magazin
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